"Analoge Gesellschaft"/ "Analoge Mailingliste"
1.) Worum geht es?
Die Digitalisierung dringt immer tiefer in unsere Alltagswelt ein. Damit häufig verbunden sind: Beschleunigung des Lebens, Reduzierung von Aufmerksamkeit und Konzentration, Verlust von Gründlichkeit - vor allem aber eine zunehmende Abhängigkeit von komplexen IT-Systemen und ein gesellschaftlicher Zwang zum "Always On", zum ständigen Erreichbar- und Erfasssbar-Sein. Zugleich greifen auch Automatisierungsprozesse immer weiter in unser Leben ein, die angesichts ihrer Abstraktheit und Spezialisierung Kausalitäten verschleiern und ein kritisches Hinterfragen des Gegebenen erschweren. Hieraus ergibt sich ein zunehmender Kontrollverlust über bisher von uns autonom verwalteter Lebensbereiche.
Deshalb finden wir, dass es neben der digital-vernetzten Welt eines analogen Gegenstücks bedarf, mit dem wir uns Freiräume erhalten können. Oder wie es die Aktivisten von capulcu treffend nennen: Es geht darum, die Zukunft offen zu halten ("keep the future unwritten"). Wir meinen, es ist Zeit sich zu überlegen, wie der Austausch von Gedanken und Meinungen im Analogen befördert werden kann.
Es geht um den Entzug vor Erfassung und um die Entschleunigung von Kommunikation.
Deswegen dieses Experiment.
2.) Experiment: "analoge Gesellschaft" und "analoge Mailingliste"
Die "analoge Gesellschaft" ist ein Experiment dazu, an dem jeder und jede mitmachen kann.
Wir beginnen unser analoges Zusammensein mit einer analogen Mailingliste. Das könnte aber auch nur der Grundstein für weitere Projekte und Ideen sein, die sich auch gerne über die Grenzen dieses Experimentes hinaus erstrecken.
Auf der analogen Mailingliste kann über Alternativen zur Zwangs-Digitalisierung unseres Lebensraums, über die Schaffung und Belebung überwachungsfreier Lebensräume diskutiert werden. Die Mailingliste anderereits ist aber offen für alles, was einen bewegt oder interessiert. Es gibt also keine explizite inhaltliche Beschränkung dessen, was dort eingebracht wird.
3.) Wie funktioniert die "analoge Mailingliste"?
Wir sammeln Monat für Monat Beiträge zur Mailingliste, die zum Monatsende als "analoges Mailinglisten-Journal" zusammen gefügt und an daran Interessierte verteilt oder von diesen abgeholt werden.
Jede*r mit Interesse kann daran mitmachen - und das geht so:
Auf der analogen Mailingliste mitschreiben:
- Verfasse deinen eigenen Beitrag zur Mailingliste. Erlaubt ist alles, was auf eine DIN-A4-Seite (einseitig!) passt und sich mittels Schwarz-Weiß-Kopie vervielfältigen lässt:
- Handgeschriebenes, Schreibmaschinen-Getipptes, Ausgedrucktes
- Gemaltes, Bilder, Zeichungen, Gekritzeltes
- eine Collage aus Zeitungsfetzen oder aus sonstigen Dingen/Ausschnitten deiner Lebenswelt
- ASCII-Kunst
- eine Fotowand
- Comics
- Stellungnahmen, Kommentare, Meinungsäußerungen
- Informationen
- Ideen, Gedanken oder auch nur Fetzen davon
- Gedichte, Geschichten oder Berichte
- Kryptographisches, Rätsel
- Veranstaltungshinweise
- Zitate
- ... oder was dir sonst noch einfällt ...
- Schicke/befördere deinen Beitrag per Briefpost bis zum jeweiligen Monatsende an eine der Sammelstellen (siehe weiter unten).
Die analoge Mailingliste mitlesen:
Entweder:
- Schreibe einen kleinen Zettel mit einer Postanschrift, an die das nächste Mailinglisten-Journal versendet werden soll, und lege diesen Zettel zuammen mit Briefmarken im Wert von 1,00 Euro (für einen Versand als Büchersendung) in einen Briefumschlag und versende alles zusammen an eine der Sammelstellen (siehe unten). Die Zettel und Briefmarken werden dazu verwendet, nach der monatlichen Sammlung und Vervielfältigung (mittels wechselnder Fotokopiergeräten im öffentlichen Raum) die Mailinglisten-Journale zuzusenden.
Oder:
- Suche eine der Auslegestellen für das Mailinglisten-Journal auf und nimm dir ein Exemplar mit.
Folgendes ist auch noch wichtig:
- Anoymität I - Die Beiträge können völlig anonym oder mit einem Pseudonym verfasst und versendet oder bei einer der im öffentlichen Raum befindlichen Stellen eingeworfen werden. Eine (Echt-)Namensnennung ist nicht nötig.
- Datensparsamkeit - Bei den Sammelstellen werden keinerlei Daten gesammelt. Es wird nichts zurückbehalten und es werden keinerlei Adresss- oder sonstige personenbezogene Daten kopiert, gescannt oder sonstwie vorgehalten/gespeichert. Die eingesendeten Original-Beiträge werden nach Vervielfältigung vernichtet.
- Funktion der Sammelstellen - Die Sammelstellen sammeln alle eingehenden Beiträge bis zum Ende eines jeden Monats. In Abstimmung aller Sammelstellen miteinander werden die Beiträge vervielfältigt und daraus die monatlichen Mailinglisten-Journale hergestellt. Die Journale werden dann per Post an diejenigen verschickt, die eine Bestellung samt Briefporto zugesendet haben. Zusätzlich werden an bestimmten Stellen des öffentlichen Raums Exemplare zum unkontrollierten Mitnehmen ausgelegt.
- Anonymität II - Durch den getrennten Versand von Mailinglisten-Beitrag und Mailinglisten-Journal-Bestellung oder durch die Nutzung der öffentlichen Abgabestellen versuchen wir die Zuordnung von Verfassern und Lesern so gut wie möglich zu erschweren. Wer möchte, kann trotzdem beides (Mailinglisten-Beitrag und Journal-Bestellung) gemeinsam die selbe Beitrags-Sammelstelle schicken. Dann ist die Anonymität gegenüber den Sammelstellen nicht mehr gewährleistet, dafür spart man etwas Porto.
- Kein Abonnement - Es gibt kein Abonnement. Wer im nächsten Monat wieder ein neues Mailinglisten-Journal erhalten möchte, der muss erneut Versende-Porto aufbringen und zusammen mit einem Versende-Anschrift-Zettelchen zuschicken.
- Einschränkungen und Zensur - Beiträge mit menschenverachtenden Inhalten werden nicht berücksichtigt. Ansonsten gilt: Die Mitmachenden entscheiden über das, was geschrieben wird. Es gibt keine Zensur oder Moderation.
- Diskussionskultur - Es ist selbstverständlich möglich und erlaubt, Bezug auf irgendeinen Beitrag der vorhergehenden Mailinglisten-Journale zu nehmen. Im Idealfall entwickeln sich so eigen-artige Diskussions-Stränge. Oder auch nicht. :)
- Experiment-Status - Die analoge Mailingliste ist ein Experiment. Es gibt keine Gewähr auf Fortsetzung. Aber auch darüber kann diskutiert werden.
- Mitmachen und Dezentralität leben - Dieses Experiment lebt vom Mitmachen! Die analoge Mailingliste soll eine Gelegenheit zum überwachungsarmen und anonymen Diskutieren bieten. Die Dezentralität der Mailinglistenstruktur ist uns wichtig. Wir freuen uns über Vorschläge zur Verbesserung des Konzepts und freuen uns auch, wenn du die Idee weiterträgst oder als lokale Sammelstelle für Beiträge aus der deiner Stadt, deiner Gegend mitmachst.
4.) Sammelstellen
Es gibt mehrere Sammelstellen mit Postanschriften, denen man Beiträge und Bestellungen per Briefpost zuschicken kann. Andere Sammelstellen (zu Beginn des Experiments erst mal nur eine einzige) befinden sich im öffentlichen Raum und können zum Abliefern von Beiträgen und Bestellungen und zur Abholung von Journalen genutzt werden.
Die Sammelstellen 1, 09 und 3 werden von verschiedenen Personen aus verschiedenen Städten autonom betreut - es findet kein Austausch von personenbezogenen Daten untereinander statt. Man kann sich auch mit Fragen oder bei Unklarheiten an diese drei Stellen wenden.
Weitere Sammelstellen oder auch Abholstellen wären denkbar und wir freuen uns über jede Unterstützung, wollen aber auch erst einmal schauen, wie das Experiment anläuft.
- Sammelstelle 1: Die Postanschrift von der Sammelstelle 1 erfährst du, wenn du eine PGP-verschlüsselte Mail (der Anfrage am besten gleich den eigenen öffentlichen PGP-Schlüssel anhängen!) an die folgende Mailadresse schickst:
- Sammelstelle 09: Die Postanschrift von der Sammelstelle 09 erfährst du, wenn du eine PGP-verschlüsselte oder unverschlüsselte Mail an die folgende Mailadresse schickst:
- Sammelstelle 3: Die Postanschrift von der Sammelstelle 3 erfährst du, wenn du eine PGP-verschlüsselte oder unverschlüsselte Mail an die folgende Mailadresse schickst:
- Sammelstelle 4: Die Sammelstelle 4 ist ein mobiler Briefkasten/Zeitungskasten im öffentlichen Raum von Hannover, den man anonym nutzen kann und der mehrfach wöchentlich geleert wird. Der Standort wechselt hin und wieder mal, derzeit findet man die Sammelstelle, an der auch ein paar Mailingliste-Journale zum Mitnehmen ausgelegt werden, an dieser Stelle:
http://www.openstreetmap.org/?mlat=52.37201&mlon=9.71128#map=18/52.37201/9.71128
5.) Warum dieses Experiment?
Neben dem schon gesagten möchten wir aus dem lesenswerten zweiten Heft der Aktivisten von "capulcu" zitieren:
Wenn wir dem Befehl der Maschinen zu kommunizieren, Folge leisten, arbeiten wir mit - an der Stabilität des gegenwärtigen Kapitalismus.
Sein Streben nach totaler Transparenz (in Echtzeit) ist die Grundlage der anhaltenden In Wert Setzung von Information. Das Dauersenden unserer Lebensäußerungen ist nur eine weitere Etappe der Versklavung der Menschen durch die Maschine. Je weiter die Sensorik ins biopolitische Gewebe, in das Leben der Menschen eindringt, um so weiter reicht die Unterwerfung des Menschen unter das Diktat der algorithmischen Maschine.
Sich dem Senden verweigern. Was "praktisch" erscheint, abschalten, wegwerfen, zerstören. Keine Verbindung. Sich den scheinbaren technologischen Hilfen zu entledigen öffnet den Raum für die Improvisation. Die Wiederaneignung geraubter Fähigkeiten. Ist es von Bedeutung eine Meinung (mit-) zu teilen, Protest zu liken, die Verfolger*innenbehörden von meinem Unmut zu informieren? Wie würden wir handeln, wenn das Netz ausfällt? Geht es nicht eher um die Schaffung und Ausweitung undurchsichtiger Räume, in denen Begegnungen stattfinden, die nicht von der Sensorik erfasst werden können? Um kollektive Rebellion gegen die Beschleunigung, die Transparenz, die Warenförmigkeit des Lebens.
Die Langsamkeit unterbricht die Ströme. Sie ist notwendig für unsere Beziehungen untereinander. Sie ist ein Angriff auf das Wesen und den Prozess der Kybernetik. Die Zeit ist unser Verbündeter. Keine Erkennbarkeit und keine Anerkennung. Die Verweigerung des feedback. Wenn die Einzelnen ihre Selbstdisziplinierung vergessen und die ihnen zugeordnete Funktion verlassen, zerstören sie die Gewebe der Kontrolle.
Quelle: https://capulcu.blackblogs.org/bandii/maschinen-die-menschen-steuern/
Eine Idee der Leute von freiheitsfoo. Das Experiment hat am 1.9.2015 begonnen.